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AKW: Störfall Update10.05.2011

Ein Insider behauptet: Ausgerechnet das Nachrüsten von Hard-und Software erhöht die Störanfälligkeit von Atomkraftwerken - und das Risiko eines GAUs

Quelle: CHIP 05/2011

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Ein Insider behauptet: Ausgerechnet das Nachrüsten von Hard-und Software erhöht die Störanfälligkeit von Atomkraftwerken - und das Risiko eines GAUs

VON MANUEL KÖPPL

Seit Tschernobyl hat er schlecht geschlafen. Seit Fukushima weiß er, dass es mit der Ruhe vorbei ist. "Man fühlt sich mitverantwortlich", sagt der CHIP-Informant. Der Mann stammt aus dem Umfeld der Leittechnik-Entwicklung für Atomkraftwerke. Mehr solle man nicht schreiben. Denn was der Insider behauptet, birgt Zündstoff: Das Nachrüsten von Hard- und Software soll die Störanfälligkeit von Reaktoren erhöhen.
Der Innovationsdruck in den deutschen Atomkraftwerken steigt immer weiter. Seit Jahren wird er angeheizt durch die Diskussion über veraltete Technik und gerade frisch befeuert durch eine emotionale Debatte nach Fukushima. Jetzt soll modernste Leittechnik deutsche Reaktoren sicherer machen. Doch der anonyme Experte behauptet gegenüber CHIP: "Wenn man alte und neue Technik kombiniert, kommt es im  schlimmsten Fall zu Störungen, auf die man nicht vorbereitet ist." Denn das Zusammenspiel zwischen Hard- und Software in Atomkraftwerken sei hochsensibel.

Risiko "inkompatible Systeme"

Auch Lars-Olov H?glund warnt vor einer Modernisierungswelle in deutschen Reaktoren. "Niemand würde auf die Idee kommen, einen alten VW Käfer auf neue Sicherheitstechnik umzurüsten", veranschaulicht der ehemalige Atomkraftwerks-Konstrukteur das Problem. Das Risiko eines technischen Störfalls werde grob unterschätzt.

Das sieht Arndt Lindner ganz anders. Seit 36 Jahren forscht der Mathematiker im Bereich Leittechnik, zunächst im ersten wirtschaftlich genutzten Atomkraftwerk der DDR in Rheinsberg. 1980 wechselt er ans Zentralinstitut für Kernforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Seit 1992 prüft Lindner für das Institut für Sicherheitstechnologie in Garching bei München Leittechnik f?r Kernkraftwerke weltweit - im Auftrag der Atomaufsicht.

"Mir ist nicht bekannt, dass von uns geprüfte Software die Sicherheit eines Reaktors beeintr?chtigt hätte", sagt der erfahrene Prüfer. Jedoch räumt Lindner ein: "Es gibt Fälle, in denen sich Software nicht wie erwartet verhält." Vermeintliche Verbesserungen hätten sich mitunter als Verschlechterungen erwiesen, gibt er zu.

Doch Lindners Vertrauen in führende Leittechnik-Hersteller wie Areva, Westinghouse oder Rolls-Royce hat das nicht erschüttert: Zu streng seien die Testkriterien, zu hoch die Hürden für eine Zertifizierung der Hard- und Software. "Fehler, die uns auffallen, gelangen nicht ins System", versichert Lindner gegen?ber CHIP.

Risiko "blinde Flecken"

Doch noch gefährlicher als Konstruktions- und Programmierfehler seien sogenannte "blinde Flecken" in der Steuerung, behauptet der anonyme Leittechnik-Entwickler. "Wenn alte Software veränderte Bauteile nicht erfasst, kann das Programm die neuen Komponenten nicht ansteuern", erklärt der Insider. Ein Beispiel wolle er nicht nennen. "Aus Sicherheitsgründen", wie er sagt.

Software-Prüfer Lindner beruhigt: "Kein Kraftwerksbetreiber wird einen Rundumschlag machen." Auch in der Leittechnik gelte der Grundsatz: Never change a winning team. "Jede Nachrüstung muss von den Kraftwerksbetreibern bei der Atomaufsicht angemeldet werden", sagt Lindner. Jedes neue Bauteil werde durch unabhängige Institute geprüft. "Sofern es sicherheitsrelevante Bedeutung hat", schränkt er ein.

Doch der Druck, auf modernste Sicherheitstechnik umzustellen, wird immer höher. "Weil Ersatzteile für analoge Sicherheitssysteme knapp werden, sind die Kraftwerksbetreiber gezwungen, bald auf digitale Technik umzustellen", berichtet der CHIP-Informant. Sogar von Hamsterkäufen einzelner Ersatzteile spricht der Insider. - Droht jetzt der Kontrollverlust in deutschen Reaktoren?

Auch Sicherheitsexperte Lindner weiß, dass die Kraftwerksbetreiber bei auslaufenden Baureihen gerne Vorräte anlegen. "Denn die Umstellung von analoger auf digitale Leittechnik ist teuer und aufwendig", erklärt der Software-Prüfer. Vier bis fünf Jahre veranschlagt Lindner pro Atomkraftwerk für die Nachrüstung digitaler Sicherheitstechnik. Die Prüfung sei eben zeitintensiv.

Risiko "fehlender Nachwuchs"

Professor Wolfgang Hansen sieht noch ein weiteres Problem auf die deutsche Atomwirtschaft zukommen: "In Deutschland muss schon heute Anlagentechnik nachgerüstet werden", erklärt der Leiter des Ausbildungskernreaktors an der Technischen Universität Dresden. Dafür benötige man aber geschultes Personal. "Doch die Zahl der Fachabsolventen kann den aktuellen Bedarf der Branche nicht decken", sagt Hansen.

Der anonyme Leittechnik-Entwickler erinnert sich derweil an die Zeit nach Tschernobyl und ahnt, was nach Fukushima kommt: "Der erneute Ausstieg aus dem Ausstieg." Glaubt man politischen Kreisen, könnte das Atom-Moratorium der schwarz-gelben Bundesregierung zumindest der Startschuss für eine Modernisierungswelle bei deutschen Atomkraftwerken sein. Und damit der Wegbereiter für die nächste Katastrophe, befürchtet der Informant.

Wenn die Modernisierungswelle kommt, so prophezeit der Insider, droht deutschen Reaktoren der GAU. Der ehemalige Atomkraftwerks-Konstrukteur H?glund sagt: "Die nächsten Jahre werden die gefährlichsten in der Geschichte der Atomkraft."

MANUEL.KOEPPL@CHIP.DE

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Quelle: CHIP 05/2011